Von Introvertierten und malignen Vielrednern
Immer wieder beschäftigt mich der hohe Gesprochene-Worte-pro-Zeiteinheit-Quotient meiner Mitmenschen. Manche Vielredner sind gutartig und haben einfach nur viele Ideen und Gedanken, die sie teilen wollen. Im Umgang mit dem malignen Vielredner bedarf es jedoch spezieller Strategien.
Ich gebe es ja zu: Wenn es so etwas wie ein Spektrum der Kommunikationsfreudigkeit gibt, befinde ich mich definitiv am wortökonomischeren Ende. Wobei das weniger einem prinzipiellen Unwillen zur Kommunikation geschuldet ist als mehr dem Umstand, dass mir einfach das Instrumentarium zu fehlen scheint, um eine klassische Alltags-Kommunikationssituation elegant zu meistern, ohne mich durch Ungeschick der Imbezilität verdächtig zu machen. Aus irgendeinem Grund ist mir die Gabe einfach nicht gegeben, eloquent über nichts zu sprechen und so zu tun, als würde ich das als normal und sinnvoll erachten.
Im Grunde würde ich mich schon gern manchmal mit Menschen über Dinge unterhalten, aber es scheitert meist an zweierlei Dingen. Zum einen bin ich zwar über das geschriebene Wort zu einer einigermaßen passablen Rhethorik befähigt, will ich jedoch im Zwiegespräch einen Gedanken ausdrücken, klinge ich oft wie frisch lobotomiert. Zum anderen mangelt es häufig einfach an einer Schnittmenge an für beide Parteien relevanten Themen. Aber egal, eigentlich soll es ja nicht um die Frage meiner Kommunikationsfreudigkeit gehen, sondern um etwas anderes.
Der Gegenstand meiner Betrachtungen soll im vorliegenden Fall eine ganz bestimmte Art von Mensch sein: Jener Typus, der scheinbar durch einen inneren Zwang sich ständig zum Sprechen bemüßigt zu fühlen scheint. Ich nenne ihn den malignen Vielredner. Der klassische maligne Vielredner ist ständig auf der Suche nach Opfern, die er dazu auserwählt, zum Empfänger seiner umfassenden Erzählungen zu werden (Obwohl das Wort „Empfänger“ dabei nicht unbedingt zutreffend ist. Unter einem Empfänger stelle ich mir jemanden vor, der die Hände ausstreckt und etwas entgegennimmt. Als Opfer eines malignen Vielredners fühlt man sich aber vielmehr so, als hätte man die Hände gar nicht ausgestreckt und würde mit der Information einfach beworfen. Man könnte also statt „der Empfänger“ auch einfach „der Beworfene“ sagen).
Meist werden in epischer Breite belanglose Alltagsbegebenheiten rezitiert, oftmals im überaus bodenständigen „Sog i-sogt er-hot er gsogt“-Erzählduktus. Besonderer Bedacht wird dabei häufig auf völlig irrelevante Details gelegt. Dies dient wohl dazu, die Dauer der Erzählung auszuweiten und dadurch das Opfer länger zu binden. Die Strategie des malignen Vielredners ist zumeist, möglichst viel belanglose Information vor den Füßen des häufig in Erstarrung befindlichen Opfers zu deponieren. Raffiniertere Exemplare streuen bisweilen auf bloß geheucheltem Interesse fußende Fragen an den Zuhörer ein, um den Anschein der Reziprozität zu erwecken.
Entwischt dem malignen Vielredner sein aktuelles Opfer, so macht er sich ohne Umschweife auf die Suche nach Ersatz. Rasch ist zu beobachten, wie er die Umgebung taxiert und nach einem geeigneten Kandidaten absucht. In diesem Moment äußerster Gefahr für den nach unbehelligter Ruhe strebenden Menschen ist das Vermeiden von Augenkontakt oberste Prämisse. Nimmt man aus dem Augenwinkel wahr, dass der maligne Vielredner ein gerichtetes Appetenzverhalten in die eigene Richtung zeigt, ist rasches Handeln vonnöten. Weniger aggressive maligne Vielredner kann man oft schon von einer Redeattacke abhalten, indem man sich umdreht oder so tut, als würde man eine Nachricht ins Handy eintippen. Besonders beharrliche Exemplare hindert auch das nicht an der ungefragten Darbietung ihres Monologs. Konsequentes Vermeiden von Augenkontakt, 1-Wort-Antworten und nötigenfalls ein Verlassen der Situation schaffen hier meistens Abhilfe. Sollte der maligne Vielredner all diese Signale ignorieren und möglicherweise dem fliehenden Opfer folgen, bleibt nur mehr die Möglichkeit, seine Logorrhoe explizit zu thematisieren und ihn anzuweisen, von einem abzulassen.
So weit zu meinen Beobachtungen – was mich jedoch eigentlich beschäftigt ist die Frage, was den malignen Vielredner antreibt. Als introvertierter Mensch kann ich schlicht nicht erfassen, welcher Gewinn daraus gezogen werden kann. Jemand, der immerzu redet und dem es egal ist, wer sein Gegenüber ist oder was es denkt, solange es einfach nur zuhört, erfährt nie etwas Neues. Er hört immer nur die eigenen Erzählungen über das, was er schon weiß. Er ist in einem Kreislauf des repetitiven Regurgitierens belangloser Begebenheiten aus seinem Leben gefangen und wird so zu seiner eigenen Echokammer. Erzählt er seine Geschichten dem anderen oder erzählt er sie sich selbst? Gibt es ihm ein Gefühl von Sicherheit, immer wieder das zu hören, was er schon weiß und kennt? Hat das Rezitieren von Begebenheiten auf der untersten Sprosse der Abstraktionsleiter einen beruhigenden Charakter, weil es die Illusion evoziert, dass außerhalb davon nichts existiert? Hält so etwas den allenthalben dräuenden existenziellen Horror des Menschseins mit all seinen Implikationen von einem fern? Kann man sich selbst dadurch vergessen machen, dass man von einer Sekunde auf die andere sterben oder alles verlieren kann, was man hat? Dass Sicherheit eine Illusion ist? Ist der Moment der drohenden Stille, den er nach dem Verlust eines Opfers erlebt, geeignet, all den verdrängten Horror des Menschseins über ihn hereinbrechen zu lassen? Macht er sich deswegen unverzüglich auf die Suche nach einem neuen Opfer?
Meine momentane Arbeitshypothese ist, dass der maligne Vielredner die paradoxe Strategie implementiert, über sich selbst zu sprechen, um vor sich selbst zu fliehen. Das ständige Wiederholen belangloser Alltagsinhalte und -begebenheiten scheint ihm Halt zu geben. Ein Moment der Stille würde vielleicht dem Auftauchen von Fragen Raum geben, deren mögliche Antworten ihn in die Tiefe ziehen und verschlingen könnten. Und dieser Gedanke lässt in mir sogar einen Funken von Mitgefühl mit dem malignen Vielredner entstehen: Denn haben wir nicht alle unsere Strategien, uns beschäftigt zu halten, um dem existenziellen Horror des Menschseins zu entkommen?
Auf jeden Fall werde ich den malignen Vielredner in freier Wildbahn weiter studieren. Aus der Ferne, versteht sich. Als Zuhörer stehe ich nicht mehr zur Verfügung.